Ein Imker aus dem Lötschental verliert durch den Bergsturz von Blatten seine Bienenvölker – und mit ihnen ein Stück Heimat.
Über dem Küchentisch hängt ein Aquarell des Bietschhorns. Peter Rubin scrollt auf seinem Handy durch die Fotogalerie. Tausende Male hat er diesen Berg fotografiert, bestiegen, bewundert. «Ich habe das Bietschhorn mein ganzes Leben lang angebetet.» Und jetzt? «Jetzt sollte ich plötzlich wütend auf diesen Berg sein?» Er schüttelt den Kopf. «Nein. Das Bietschhorn ist unser Hausberg. Wir brauchen die Berge hier.» Die Worte klingen versöhnlich. Doch was sie verdecken, ist ein stiller Schmerz.
Am 28. Mai 2025 verschüttete ein Bergsturz aus dem Gebiet unter dem besagten Bietschhorn das Dorf Blatten und den davor liegenden Weiler Ried. Dort wuchs Rubin auf, dort hatte er auch sein Bienenhaus. Der Berg kam so gewaltig zu Tal, man kann kaum mehr lokalisieren, wo genau Ried in dem zwei Kilometer langen Schuttkegel liegt. Jegliche Anhaltspunkte fehlen. Aber irgendwo darunter sind seine zehn Bienenvölker begraben. «Zwischen 300 000 und 500 000 Lebewesen, für die ich Verantwortung trug.» Tiere, die nun tot sind – und mit ihnen ein Kapitel von Rubins Leben.

Sein Weg zum Imker
Schon als Kind half er einem Imker am Ried Material hoch zum Bienenhaus zu tragen. Zur Belohnung gab‘s oben ein Honigbrot und der Imker hat dem jungen Rubin etwas über die Bienen und das Imkern erzählt. Die ersten eigenen Bienen hatte Peter Rubin Ende der 1980er-Jahre. Von einem einheimischen Imker bekam er einen Schwarm geschenkt. Damals lebte er im Rhonetal. Der erste Versuch scheiterte – zu weit weg, zu wenig Zeit, zu wenig Wissen. «Ich habe es mir viel zu einfach vorgestellt.»
Erst 2012 – nach der Pensionierung – kehrte er ernsthaft zur Imkerei zurück. Er absolvierte den Grundkurs, kaufte Völker und liess mit dem Helikopter ein altes Bienenhaus an seinen Kindheitsort bringen. Bei den Bienen konnte er abschalten. «Wenn ich bei den Bienen war, war ich einfach weg. Ich konzentrierte mich und dachte nicht über meine Alltagsprobleme nach. Wenn ich vom Bienenhaus zurückkam, war ich wie geläutert», sagt Rubin und lacht. Das Imkern habe ihn zu einem ruhigen Menschen gemacht.
Fast täglich fuhr er nach Ried – auch wenn es scheinbar nichts zu tun gab. «Etwas gibt’s immer. Und manchmal geht man nur hin, um da zu sein.» In einem Heft notierte er bei jedem Besuch Uhrzeit, Wetter, Temperatur und Tätigkeiten. Der letzte Eintrag stammt vom 16. Mai.

Der Tag des Bergsturzes
An diesem Nachmittag sass Rubin auf dem Sofa. Er merkte, irgendetwas war anders. «Ich stand 20-mal auf und lief auf die Terrasse. Es war ein banges Gefühl im Bauch.» Dann eine leichte Erschütterung, der Fernseher ging aus. Rubin lief nach draussen und sah die Staubwolke. Erst später, auf Fotos, realisierte er, dass der Hang bis zum Bienenhaus hinauf verschüttet wurde. «Ich musste weinen.» Doch schon bald kam der Gedanke: «Zum Glück waren die Menschen in Sicherheit.»
Ein Lebemensch, so würde ich Peter Rubin beschreiben. Er hat viele Geschichten zu erzählen an diesem Nachmittag. Einen Teil seiner Schulzeit absolvierte er im Jura, lernte Französisch. Seine Frau war Engländerin. Bevor sie schwanger wurde, lebten die beiden eine Zeit lang in England. Zurück in der Schweiz arbeitete sich Rubin hoch bis in eine Führungsposition. «Eine Lehre habe ich nie gemacht, aber ich war zuverlässig und sprachgewandt.» Peter Rubin war in der Gewerkschaft tätig und engagierte sich für das Wohl und die Rechte seiner Arbeiter.
Ende der 80er-Jahre kam Rubin mit seiner Familie zurück ins Lötschental. Knapp drei Jahre später verstarb seine Frau an Krebs. «Damals war ich völlig unten. Jetzt war ich einfach schockiert.» Der Schicksalsschlag hilft Peter Rubin heute, mit dem Bergsturz besser umgehen zu können. Dennoch: Der Verlust der Bienen schmerzt. «Es ist wie …» Rubin überlegt kurz, «wie wenn jemand gerne laufen geht und dann seine Beine verliert. Die Bienen waren meine Leidenschaft.»
Die Bienen als Lebensschule
Imkern sei ein Hobby, in das man hineinwachsen müsse, sagt Rubin. Anfangs könne man noch so viele Bücher lesen, man hat den Blick dafür einfach nicht. «Man könnte sagen, die Imkerei ist eine Wissenschaft. Du musst dafür aber kein Wissenschaftler sein. Du baust dir dein Wissen über die Jahre auf.» Wissen über die Bienen und über die Natur. Das Imkern habe ihn näher mit der Natur verbunden. «Du lernst wieder zu beobachten. Wann kommen die Schneeglöckchen? Wie ist das Wetter, welchen Einfluss hat das?» Er spricht von der Faszination eines funktionierenden Organismus, von der Verantwortung, in diesen einzugreifen. «Ein Volk ist wie ein Körper, und du musst verstehen, was es braucht.» Er spricht nicht von Einzeltieren, sondern von einem System. Und wenn er draussen am Flugloch vorbeiging, wusste er oft schon, ob etwas nicht stimmte. Rubin blickt aus dem Fenster in Richtung Ried: «Weisst du, jetzt würde ich eigentlich zu den Bienen gehen.»
Kein Imker ohne Bienen
Bis zuletzt war er Betriebsprüfer im Oberwallis. Jedes Jahr drei bis vier Tage unterwegs, jeden Januar gab es eine Weiterbildung. Der Job sei nicht lukrativ gewesen, aber er habe den Austausch mit den anderen Imkern geschätzt, sagt Rubin. «Ich habe gesehen, wie andere es machen und immer etwas gelernt und neue Ideen bekommen.» Jetzt will er aufhören. «Ich kann doch keine Betriebe mehr prüfen, wenn ich selber keine Bienen mehr habe. Sonst erzähle ich auf einmal noch Quatsch.»
Heute bleibt ihm nur noch der Honig – etwa zehn Kilo. Ein Glas hat er mir geschenkt. «Das letzte vom Ried.» Er isst täglich Honig. «Ich will aber nur Blattner Honig.» Er müsse noch ein Wort reden mit der letzten verbleibenden Blattner Imkerin.
Peter Rubin ist 77 Jahre alt, hat Rückenprobleme. In letzter Zeit musste er sich immer mehr vom Imkern zurückziehen, hat sein Wissen seinem jüngeren Bruder weitergegeben. «Wenn ich 60 wär, würde ich wieder anfangen. Vielleicht sogar mit 70.» Er lacht. Stattdessen will er mehr laufen gehen, wieder aufs Hockenhorn, einen leichten 3000er im Lötschental. Er hat das Bergsteigen nie fanatisch betrieben – «aber Angst hatte ich nie.» Er ist kein Naturromantiker, sondern ein Beobachter. «Ich habe schöne Erinnerungen», sagt er. «Im Alter lebt man viel von Erinnerungen …»
